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Von Lo Siegmund

Nach einer Woche Krieg in der Ukraine haben sich etliche Parameter, vermeintliche Gewissheiten und bisher tragende Pfeiler der deutschen (und europäischen) Politik und der öffentlichen Meinung erkennbar grundlegend geändert und teilweise zu 180-Grad-Kehrtwenden im Denken und in der Argumentation geführt. Binnen kürzester Zeit sind Grundsätze der deutschen Nachkriegspolitik über den Haufen geworfen worden, die EU ist außenpolitisch völlig aus dem Häuschen und sogar Staaten wie Polen und Ungarn, bisher nicht gerade für ihre offenen Arme und Grenzen in Bezug auf Flüchtlingsströme bekannt, wandeln sich schneller vom Saulus zum Paulus als man bei ihren Regierungen für die Unterzeichnung einer Protestnote an die EU-Kommission benötigt, weil diese Gelder zurückhält auf Grund demokratiegefährdender Entwicklungen in eben jenen genannten Mitgliedsländern.

Moralische Lücke

Der Angriffskrieg in direkter Nachbarschaft wird nicht etwa von Russland oder den russischen Streitkräften gefochten, nein, es ist „Putins“ Krieg, wie der Kanzler und seine Außenministerin nicht müde werden zu erwähnen. Damit reduziert man den Irrsinn auf eine bestimmte Person und nimmt den militärisch-industriellen Komplex, die Streitkräfte, deren Befehlshaber und alle Unterstützer dieses postsowjetisch-imperialistischen Gehabes aus der verbalen Schusslinie (eine vielleicht geschmacklose aber der Kriegssituation angemessene Wortwahl). Gleichzeitig bittet Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, der ukrainische Präsident, China um Vermittlung im Konflikt, was westlich von Kiew ebenfalls begrüßt wird. China – nicht Xi Jinping! In der aktuellen Lage ist das logisch nachvollziehbar und sinnvoll, kein anderes Land hat so viel militärisches und wirtschaftliches Gewicht und gleichzeitig so enge Kontakte zu der Regierung in Moskau wie die selbsternannte „Volksrepublik“. Allerdings klafft hier eine moralische Lücke, was den Sprachgebrauch anbelangt. Ungeachtet der Situation in Tibet, der Unterdrückung der Uiguren und der Tatsache, dass eine Sprecherin der chinesischen Regierung noch während der ökologisch desaströsen „Winterspiele“ olympischer Art in einer Rede verkündete, man werde natürlich Taiwan bei sich bietender Gelegenheit wieder dem „Mutterland“ China einverleiben, wird China nicht auf „Xi“ reduziert und stattdessen sogar als Vermittler und Moderator willkommen geheißen. Russlands Streitkräfte hingegen kämpfen in Putins Krieg. So kann man Diktatoren unterscheiden.  Wenn’s hilft…

Die Begeisterung der östlichen EU-Staaten Polen und Ungarn für Kriegsflüchtlinge war in den letzten Jahren ähnlich ausgeprägt wie bei der sogenannten AfD und ihren Anhängern, nämlich gar nicht. Nun aber werden fliehende Menschen aus der Ukraine bereits an der Grenze versorgt, Transporte organisiert, sogar zunehmend privat betreut und untergebracht. Angesichts der Zerstörung und des Leids vor der eigenen Haustür ist das nicht überraschend, je näher eine Katastrophe ist, desto mehr nimmt man daran teil. Und es ist – das will ich betonen – eine wunderbare Entwicklung und eine sehr menschliche und menschenwürdige Haltung. Respekt für alle, die sich hier engagieren! Trotzdem sei angemerkt, dass auch die Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak einen solchen Umgang verdient gehabt hätten. Aber sie haben wohl die falsche Haut- oder Haarfarbe, die falschen Vornamen und vor allem die falsche Religion. Wenn Swetlana oder Piotr an Rosenkränzen nesteln und Marienbildchen küssen ist das offenbar vertrauenserweckender als eine Djamila oder ein Mohammed, die sich zum Gebet in Richtung Mekka knien. Die zerstörten Städte und Dörfer, die seelischen Verwundungen und die Erlebnisse auf der Flucht dürften allerdings identisch sein.

EU-Staaten rücken näher zusammen

In der EU hat man selten so schnell, so einig und so nachhaltig reagiert wie in den letzten Tagen. Der geneigte Beobachter reibt sich verwundert die nachrichtengeröteten Äuglein. Und er denkt sich im Stillen „ach, wäre das doch häufiger auch bei anderen wichtigen Entscheidungen der Vergangenheit der Fall gewesen“. Doch der völkerrechtswidrige Angriff russischer Truppen auf die Ukraine hat es möglich gemacht, dass sich die Staaten auf eine gemeinsame Position und weitreichende Sanktionen binnen kürzester Zeit geeinigt haben. Die Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA auf den souveränen Staat Irak im Jahr 2003 fiel seitens der EU allerdings deutlicher milder aus – also eigentlich gar nicht. Um es deutlich zu sagen: sie fiel ganz aus. Schweigen im Walde. Null Sanktionen. Noch gravierender: Im März 1999 griff die NATO in den Kosovo-Krieg ein und begann mit Luftangriffen auf Belgrad. Sie handelte ohne ein UN-Mandat, dessen Erteilung Russland im UN-Sicherheitsrat verhindert hatte. Deshalb war die Kriegsbeteiligung der NATO in den Augen zahlreicher – auch westlicher – Kritiker ebenfalls völkerrechtswidrig. Bemessen wir Europäer unsere Empörung also anhand von völkerrechtlichen Verträgen und Vereinbarungen, wie z. B. der Haager Landkriegsordnung, der Genfer Konventionen etc. auf die wir uns gerade im „Fall Ukraine“ berufen, oder entscheiden wir auf Grund einer höheren „Moral“, die es uns ermöglicht, völkerrechtlich vereinbarte Grundsätze je nach Laune, persönlicher Betroffenheit und Präferenz mal gut und legitim und anderenfalls mal scheiße und verurteilenswert zu finden? Es gibt für beide Ansätze gute Argumente, nur müssten wir uns vielleicht mal entscheiden.

Tornado Bomber TLG-33 der Bundeswehr

Aufrüstung ändert noch nichts am Kräfteverhältnis

Ein anderer Effekt: Aufrüstung und Ausstattung der Bundeswehr sind plötzlich in aller Munde und Geldbeutel. Laut Umfrage von ntv ist eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung dafür. Eine Milliarde, das sind tausend Millionen oder in Ziffern 1.000.000.000 EUR sollen für die Modernisierung und „Ertüchtigung“ der Armee in den kommenden Jahren ausgegeben werden. Die Rüstungsindustrie freut’s. Aber irgendwie sind wir hier beim nächsten Dilemma: Natürlich muss ein Angestellter der Streitkräfte über eine ausreichende Ausrüstung verfügen. Diese soll ihm ermöglichen, sich selbst zu schützen und seinem Auftrag gerecht werden zu können. Das ist das Mindeste, was man von seinem Arbeitgeber erwarten kann. Die Tornado-Jets sind fast 50 Jahre alt. Hubschrauber, die mangels Ersatzteilen in Hangars gammeln, bringen auch nicht viel. Das sehe ich ein. Warme Socken und Nachtsichtgeräte für die Truppe: gebongt! Dann höre ich, dass die Bundeswehr mit 350 (in Worten: „dreihundertfünfzig“) Soldaten plus ein paar Holländern, Belgiern und Franzosen die NATO-Ostflanke in Litauen sichert. Nennt sich „EFP-Battlegroup Lithuania“ und besteht insgesamt aus 1.200 Soldaten. EFP steht für „enhanced Forward Presence-Bataillons“ also etwa „verstärkte (oder erweiterte) vorwärtsgerichtete Präsenz-Kampfeinheit“. Die nächste Meldung, nur wenige Sekunden später: Die russischen Streitkräfte in der Ukraine belaufen sich auf schätzungsweise 80.000 Mann. In Worten: „achtzigtausend“. In der Ukraine. Die Truppen in Belarus und auf der russischen Seite der Grenze sind hier nicht eingerechnet. Das kalkuliere ich schnell durch und komme zu dem Schluss: hier spielt Bayern München gegen Spartak Moskau – nur, dass die Münchner bloß mit 5 Spielern auf dem Platz stehen gegen eine komplette Mannschaft aus Moskau plus Ersatzspieler. Da helfen irgendwie auch die guten Stollen und atmungsaktiven Trikots nicht weiter, man ahnt schon vor dem Anpfiff, wie das Spiel vermutlich ausgeht. Natürlich stehen auch in den anderen baltischen Staaten NATO-Truppen, ebenso in Polen, Rumänien, der Slowakei etc. Am Kräfteverhältnis ändert das aber nicht wesentlich etwas. Der NATO-Eingreiftruppe NRF (Nato Response Force) stehen insgesamt rund 50.000 Soldatinnen und Soldaten zur Verfügung.

EU und NATO zu schnell gewachsen

Die NATO-Erweiterung und eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine werden derzeit westlicherseits zumindest diskutiert, von Selenskyi und vielen Ukrainern – verständlicherweise – vehement eingefordert. Man muss festhalten, dass jeder souveräne Staat das Recht hat, sich seine Bündnis- und Wirtschaftspartner auszusuchen. Ob diese dann einer Mitgliedschaft oder einer Assoziierung zustimmen, steht auf einem anderen Blatt. Auf die Gefahr hin, als unsensibler und egozentrischer Drecksack abgestempelt zu werden: ich halte beide Optionen für falsch. Die EU hat sich meines Erachtens in den letzten Jahren zu rasch erweitert und sich damit große Probleme geschaffen, die teilweise bis heute ungelöst sind. Alle Beitritte nach 1995 führten über kurz oder lang zu Blockaden bei der Entscheidungsfindung, fundamentalen Debatten über Werte und nationalstaatliche Souveränität sowie zu einer Lagerbildung innerhalb der Fraktionen des Europäischen Parlaments und der Mitgliedsstaaten. Die EU hat es versäumt, ihre politischen Strukturen und Prozesse an die neuen Herausforderungen anzupassen. So ist im Rat immer noch Einstimmigkeit bei vielen Entscheidungen zwingend. Dies betrifft beispielsweise:

  • Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (mit Ausnahme einiger eindeutig festgelegter Fälle, in denen eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, etwa die Ernennung eines Sonderbeauftragten)
  • Bürgerrechte (Gewährung neuer Rechte für EU-Bürger)
  • EU-Mitgliedschaft
  • Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften über indirekte Besteuerung
  • EU-Finanzen (Eigenmittel, mehrjähriger Finanzrahmen)
  • einige Bestimmungen im Bereich Justiz und Inneres (europäischer Staatsanwalt, Familienrecht, operative polizeiliche Zusammenarbeit, usw.)
  • Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften im Bereich soziale Sicherheit und Sozialschutz

So etwas hat in einem Europa der 12 oder 15 (bis 1995) noch einigermaßen gescheit funktioniert, zumal die damaligen Mitgliedstaaten alle einen (west-) europäisch-transatlantischen Hintergrund und somit ein gemeinsames „Gen“ hatten (ja, irgendwie auch die Österreicher). 2004 kamen dann auf einen Schlag 10 weitere Staaten hinzu und spätestens jetzt hätte es einer Anpassung der Regeln und Statuten bedurft, um weiterhin agil und handlungsfähig zu bleiben. War aber leider eine Fehlanzeige. Stattdessen wurden 2007 und 2013 noch weitere drei Länder aufgenommen und fünf sitzen noch auf der Liste der Beitrittskandidaten. Fragen Sie mal im Kindergarten Ihres Vertrauens nach. 12 Zwerge irgendwie auf eine einheitliche Linie zu trimmen ist schwierig, aber machbar. Bei 25 oder mehr können Sie das vergessen. Irgendeiner heult immer.

Gleiches gilt für die NATO. Die beiden ersten Ost-Erweiterungen 1999 und 2004 haben zu einer geopolitischen Brisanz geführt, deren Preis die Ukraine heute bezahlt und für die auch Georgien bereits geblutet hat. Die späteren Beitritte kann man vermutlich vernachlässigen. Aber die Ostausdehnung 1999 mit den Beitritten von Polen, Tschechien und Ungarn sowie 2004 mit Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien musste Russland brüskieren. Es wird viel diskutiert, ob zur Zeit der 4plus2 Gespräche zur deutschen Wiedervereinigung Garantien an Russland gegeben worden sind, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Die Aussagen dazu sind widersprüchlich. Einige behaupten, diese Zusagen seien in Bezug auf die NATO-Ostgrenze inklusive der ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts gemacht worden, andere meinen, diese Zusagen haben sich nur auf das sogenannte „Beitrittsgebiet“, also die ehemalige DDR bezogen. Egal wie, allen musste klar sein, dass Russland nicht begeistert sein würde, wenn plötzlich Anrainerstaaten einem fremden Militärbündnis angehören. Darüber durfte auch die zwischenzeitliche Annäherung von NATO und Russland in den 90ern nicht hinwegtäuschen. Später ist man halt immer klüger.

Russlands letzte Vasallen

Die letzten politischen Vasallen Russlands in Deutschland, LINKE und AfD, haben sich inzwischen zum Ukrainekrieg geäußert. Während DIE LINKE dies aber immerhin öffentlich ausficht und sich die jeweiligen Protagonisten Wagenknecht und Gysi gegenseitig „entsetzt“ von den jeweils anderen Standpunkten zeigen, schafft die sogenannte AfD noch nicht mal das. In Frankreich lässt die Präsidentschaftskandidatin des rechtsnationalen Rassemblement National (früher Front National) Broschüren vernichten, in denen sie in inniger Freundschaft mit Putin abgebildet ist. Offiziell wegen eines Druckfehlers in der Rechtsschreibung. Den hat nur bisher noch keine unabhängige Zeitung entdecken können. Präsident Macron redet noch mit Putin und ist der letzte europäische Staatschef, dem ich ein echtes Bemühen um Deeskalation abnehme. Ich hoffe, er hat Erfolg. Dabei fiel mir auf, dass Putin auf Französisch klingt wie „Putain“. Und das hat mir zum ersten Mal seit Tagen ein Lächeln auf mein Gesicht gezaubert. Googeln Sie mal die deutsche Übersetzung von „Putain“…

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