Lo Siegmund (Pressearbeit)

Lothars Lamento


 

Gedanken zum „grünen Herz Deutschlands“ oder: Die Thüringer Ministerpräsidentenwahl

Am 05.02. 2020 wurde Thomas Kemmerich, F.D.P. Politiker und mit seiner Partei mit 5,0 % der abgegebenen Stimmen von den Wahlberechtigten als kleinste Fraktion gerade so eben in den Landtag gekrabbelt, zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt. Er erhielt eine Stimme mehr als sein Gegenkandidat und bisheriger MP, Bodo Ramelow. Das wäre jetzt an sich nicht sehr bemerkenswert (außer, dass ein Vertreter der kleinsten Fraktion MP wird und Kemmerich erst der zweite MP in der Geschichte der Bundesrepublik aus den Reihen der F.D.P. ist), doch die Tatsache, dass er dieses Ergebnis nur mit den Stimmen der sogenannten AfD erreichen konnte, die in Thüringen nicht gerade für einen bürgerlich-moderaten Kurs bekannt ist, führte in der Folge zu heftigen Diskussionen, Vorwürfen und letztendlich zur Vertrauensfrage von Kemmerichs Chef Herrn Lindner, dessen F.D.P.-Präsidium ihm dieses aber – vermutlich auch aufgrund mangelnder Alternativen – mehrheitlich aussprach. Am 06.02. – 24 Stunden nach seiner Inthronisierung – gab Kemmerich bekannt, dass er von seinem Posten zurücktreten wird. Vielleicht hatte er in der Nacht nach seiner Wahl von seinem ehemaligen Geschichtslehrer geträumt?

Eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat – aber wie buchstabiert man eigentlich „Harzburg“?

Thomas Kemmerich warb auf Plakaten mit dem Slogan: „Endlich eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat“. An sich und vom Standpunkt eines Marketingfachmanns nicht schlecht gemacht. Hat Charme, Witz und bringt es auf den Punkt. Motto: ich bin clever, stehe auf dem Boden des Grundgesetzes und weiß, wie es in der deutschen Geschichte denjenigen erging, die sich DNVP, NSDAP und anderen rechtsnationalen und rechtsradikalen Kräften angedient haben. Dieses Mal allerdings – noch – unter umgekehrten Vorzeichen. Wenn man jedoch diese Eigenschaft für sich reklamiert, dann sollte man sensibel sein und sich nicht unbedingt von Vertretern der Höcke-Fraktion zum MP wählen lassen. Und dass die Stimmen, die zu Kemmerichs Mehrheit im dritten Wahlgang führten, vermutlich nicht von den Grünen, der SPD oder gar der LINKEN kamen, dürfte jedem geradeaus denkenden Menschen klar sein, denn der Kandidat der sogenannten AfD erhielt von seiner eigenen Fraktion keine einzige Stimme. Für wen mögen die Blaunen in Erfurt also gestimmt haben? Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen und den konsequenten Schluss – Nicht-Annahme der Wahl – zu ziehen, bedarf es keiner hellseherischen Fähigkeiten und keiner 24 Stunden Bedenkzeit. Fingerspitzengefühl und die Erinnerung an den eigenen Wahlspruch reichen völlig aus. Es sei denn, man hat im Geschichtsunterricht erst ab dem Kapitel „1933 bis heute“ aufgepasst und während der Themenblöcke „Weimarer Republik“, „Harzburger Front“ und „Reichspräsidentenwahl 1932“ tief und fest geschlafen oder krankheitsbedingt gefehlt. Ein entsprechendes Entschuldigungsschreiben von Mutter Kemmerich für ihren Sohn Thomas würden sowohl die Thüringer Bevölkerung als auch die F.D.P. selbstverständlich, wenngleich etwas verspätet, akzeptieren. Vermute ich mal.

Krankt „das System“ oder krankt die Argumentation?

Viele aus dem rechtskonservativen Umfeld empören sich nun, dass die Forderung aus Kreisen der Bundes-CDU, der SPD und der Grünen, Kemmerich solle zurücktreten und Neuwahlen müssten angesetzt werden, ein „Einknicken“ vor dem Wählerwillen bedeute und führen gleich mit an, dass man ja nun nicht so lange wählen könne, bis „denen da oben“ das Ergebnis in den Kram passt. Dies wird mit der üblichen und inzwischen wirklich nervigen (weil tausendfach durch das Zitieren von Grundgesetz, richterlichen Entscheidungen und Darlegung der offensichtlichen Widersprüchlichkeit zwischen flächendeckendem Gejammer in den sozialen Medien, in der entsprechenden Presse und bei Veranstaltungen (wie z. B. Pegida) ohne weitere Repressalien für die Verfasser in Form von Festungshaft oder Todesstrafe eindrucksvoll widerlegten) Larmoyanz der wütenden Bürger garniert und dadurch trotzdem nicht bekömmlicher. Und die Annahme, dieses ständige Wiederholen von Wahlen dürfe oder könne nicht sein, ist schlichtweg falsch. Man richte den Blick über den eigenen bundesdeutschen Tellerrand ins schöne Italien, wo seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Abdankung des Monarchen weit über 60 (!) Regierungen gewählt wurden. Nun gut, „bella Italia“ ist gewiss nicht gerade als Musterbeispiel politischer Kontinuität geeignet, aber dennoch ist es Gründungsmitglied der EU, des Europarates sowie Mitglied der G7, der G20, der NATO und ist ein verlässlicherer Partner als manch andere Nation in diesen Institutionen und in der westlichen Hemisphäre. Italien zählt außerdem laut Index der menschlichen Entwicklung als Industriestaat zu den höchstentwickelten Ländern der Erde und ist gemessen am nominalen Bruttoinlandsprodukt die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die Menschen jenseits der Alpen scheinen sich also ganz gut damit arrangieren zu können, ständig neue Regierungen wählen zu dürfen und trotzdem gut und gelassen zu leben.

Aber zurück von Turin nach Thüringen. Wenn die Wahl eines Ministerpräsidenten mit stabiler eigener Mehrheit im Landtag unmöglich scheint – und genau das ist bei der aktuellen Konstellation der Fall – dann ist es völlig legitim und politisch sogar notwendig, Neuwahlen anzuberaumen. Ansonsten wäre eine Regierung durch das Parlament dauerhaft handlungsunfähig. Da sich die Lager derzeit recht unversöhnlich gegenüberstehen, scheint eine Tolerierung einer Minderheitsregierung ja ausgeschlossen. Also ran an die Wahlurne. Ob es dann besser oder einfacher oder noch viel komplizierter wird, wird sich weisen. Dass in einer Demokratie, die nur das Wahlrecht aber keine Wahlpflicht kennt, mitunter ein kleiner Teil (oder zumindest nicht die überwiegende Mehrheit) über die Zusammensetzung eines Parlaments entscheidet, mag manch einer bedauern und beklagen, aber so ist es eben. Bei der letzten Wahl in Thüringen haben immerhin stattliche 65 % ihre Stimmen verteilt. Das ist nicht so schlecht. Und dass nach dem ganzen Hickhack der letzten Tage das Ergebnis einer Neuwahl völlig anders aussehen könnte, ist nicht unwahrscheinlich.

Oh Schreck, die AfD findet unseren Vorschlag gut! Was machen wir jetzt bloß?

Bisher sind sich die übrigen Parteien des politischen Spektrums einig: “Dieser Ministerpräsident hat keine parlamentarische Mehrheit, er muss sich immer auf der AfD abstützen”, sagte Kramp-Karrenbauer im ZDF. Insofern wäre eine Zusammenarbeit mit Kemmerich ein Verstoß gegen die Parteilinie, die jede Kooperation mit der AfD ausschließe – “mit den entsprechenden Folgen”. Und Kemmerich selbst sagt, dass es “keinerlei Zusammenarbeit” mit der AfD geben werde. Er hoffe auf die Kooperation aller demokratischen Parteien. Auf die Nachfrage im ARD-Morgenmagazin, dass eine Unterstützung durch die AfD aufgrund der Mehrheitsverhältnisse trotz der Ankündigung Realität wäre, antwortete Kemmerich: “Wir werden keine Regierungspolitik auf die AfD ausrichten. Wir werden kontra AfD Politik machen und werden nicht zulassen, dass Höcke die Demokratie weiter schädigt.” Er wolle beweisen, dass die AfD in dieser Politik keinerlei Rolle spiele.

Gut gebrüllt, Löwinnen und Löwen! Aber sich zunächst mit den Stimmen von CDU und sog. AfD zum MP wählen zu lassen, um dann unisono zu verkünden, man werde keinesfalls kooperieren und es gebe keinerlei Zusammenarbeit, scheint dann doch etwas gewagt. Und – pardon – unglaubwürdig. Aber was bedeutet denn eigentlich „keinerlei Zusammenarbeit“? Will man sich nicht abhängig machen und nur deshalb nicht in Posten und Amt und Würde gewählt werden, weil man Stimmen der in den Parlamenten am rechten Rand platzierten Partei benötigt? Dann wurde diese Chance zu einer eindeutigen Haltung gerade kläglich vertan. Oder möchte man ganz und gar nicht kooperieren und keinerlei Stimmen bekommen von der blaunen Fraktion? Das hieße schlussendlich, auch Anträge, Richtlinien, Gesetzesvorlagen und Fragen zur Geschäftsordnung, die auch nur von einem einzigen Vertreter dieser Fraktion unterstützt werden, müssten zurückgezogen, von den übrigen Parteien abgelehnt oder die Abstimmung ständig vertagt werden – bis sichergestellt ist, dass kein AfD-Abgeordneter mehr dafür stimmt. Ist das machbar und vor allem: ist das sinnvoll? De facto würde die konsequente Umsetzung der oben zitierten Aussagen bedeuten, dass die AfD in jedem Parlament in dem sie sitzt (und das sind viele) über eine Art „positiver Sperrminorität“ verfügt, indem sie oder einzelne Mitglieder ihrer Fraktion für einen von anderen Fraktionen eingebrachten Antrag stimmen und somit die übrigen Mitglieder des Parlamentes zwangsläufig dagegen halten müssten, auch wenn der Antrag von ihnen stammt und auch dann, wenn er sinnvoll, wichtig, notwendig ist. Will man der AfD diese Macht einräumen? Will man sich zur Geisel eines Dogmas machen? Wie kann man solche Situationen vermeiden? Oder nimmt man in Kauf, dass bei einer überwiegenden Mehrheit der demokratischen Abgeordneten, die für einen Antrag stimmen, diese paar erhobenen Hände bei der AfD tolerierbar sind? Man sollte sich da nun schleunigst ein paar Gedanken machen und klar definieren, was geht und was nicht. Sonst werden solche Aussagen wie von AKK und Kemmerich angreifbar, ebenso wie die ähnlich gearteten Statements von Vertretern der LINKEN, der Grünen und der SPD. Im Zweifelsfalle werden sie ohnehin alle nochmals bei geeigneter Gelegenheit auf dem Prüfstand landen. Dann sollte man aber in der Lage sein, plausibel zu antworten. Das wird kompliziert genug.

In Selters haben wir dieses Problem – Gott sei Dank – noch nicht. Und ich bin ja zum Glück „nur“ ein kleiner Kommunalpolitiker. Ich wäre auch gar nicht böse, wenn es sich uns niemals stellen würde. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen…

Lo Siegmund