Was mich an den Wahlanalysen stört und warum die Nazi-Keule für die AfD nicht taugt

Von Lo Siegmund

Die Deutsche Geschichte beginnt nicht im Jahr 1933 –  das weiß eigentlich jedes Kind (und alle, die über Politik reden, sollten es ganz genau wissen), dennoch scheint beim allgegenwärtigen Lamentieren über die Wahlerfolge der AfD der historische Horizont vieler Politiker und anderer Empörter genau dort zu enden. Wenn man nicht wenigstens den Vorwurf des Rechtsextremismus oder – noch besser – die bewährten Nazi-Vergleiche bemüht, wirkt wohl alles zu harmlos und die Aufregung nur relativ. Man läuft sogar Gefahr, in den Ruch des ewig Relativierenden, Beschwichtigenden und schlimmstenfalls Sympathisierenden zu kommen. Aber genau diese „Feuer aus allen Rohren“-Mentalität halte ich für grundfalsch. Wehret den Anfängen, ja, das unterschreibe ich sofort und ich bin weit davon entfernt, verharmlosen oder beschwichtigen zu wollen. Dennoch habe ich erhebliche Bauchschmerzen, wenn man jede politische Strömung rechts der Mitte umgehend mit dem größtmöglichen Aufwand und dem schlimmsten Attribut bedenkt und betitelt, welches aus dem Giftschrank der Geschichte hervorgeholt werden kann. Denn dann hat man keine Bezeichnung mehr für das, was noch kommen kann, es fehlt quasi das Serum, wenn eine noch giftigere Schlange zubeißt, das moralische Immunsystem kann dann nicht mehr angemessen reagieren.

Zunächst: entgegen vieler Aussagen entrüsteter Politprofis schaffte es durchaus bereits eine rechtsnationale Partei in den Deutschen Bundestag: die DP (Deutsche Partei) war von 1949 bis 1957 dort vertreten und stellte sogar Bundesminister. Nur weil die CDU keine Wahlabsprachen mit der DP mehr einging, konnte diese nach der Wahl ‘57 nicht mehr über Direktmandate in den Bundestag einziehen und die meisten Mitglieder wechselten anschließend in das christdemokratische Lager.

Aber zurück zu den aktuellen Vorgängen: wer sich das Wahlprogramm dieser vermeintlichen Alternative durchgelesen hat, wird feststellen, dass die darin vertretenen Positionen wahlweise als „rechtsliberal“, „ultrakonservativ“, „protektionistisch“, „nationalistisch“ und – insbesondere in Bezug auf Europa – „revisionistisch“ bezeichnet werden können, in Teilen vielleicht gar als „rechtsradikal“, jedoch nicht als „rechtsextrem“. Wäre letzteres der Fall, dann müsste der Verfassungsschutz tätig werden, denn genau hier verläuft die Grenze zwischen den oftmals durcheinandergewirbelten Begriffen „rechtsradikal“ und „rechtsextrem“. Als Radikaler bewegt man sich zwar am äußeren Rand, aber immer noch innerhalb der Grenzen der Verfassung, egal ob rechts oder links. Beim Extremismus werden diese Grenzen überschritten und das ruft dann den Verfassungsschutz auf den Plan. Soviel zur Begriffserklärung. Natürlich ist Papier geduldig und das bloße Vorhandensein eines Programms (in dem übrigens nichts über das Thema Rentensicherheit steht – einem Punkt, der vermutlich gerade die Wähler dieser Partei brennend interessieren sollte) sagt nichts über die eigentliche Gesinnung und das Gebaren der Anhänger und Repräsentanten. Hier gibt es nicht wenige, die verbal die Grenze gerne überschreiten.

Wer die jüngere deutsche Geschichte durchforstet wird auf der Suche nach Parallelen schnell fündig. Diese sind schon vor dem bisher dunkelsten Kapitel unserer Historie vorhanden. In der zweiten Hälfte der Weimarer Republik etablierten sich rechtskonservative und nationalistische Gruppierungen in den Parlamenten, die dann den geistigen Nährboden für den Aufstieg der Nationalsozialsten bildeten und zum Schluss als deren Steigbügelhalter fungierten. Insbesondere die DNVP (Deutschnationale Volkspartei) tat sich hierbei hervor, wäre Stresemann nicht gewesen wohl auch im stärkeren Maße die DVP (Deutsche Volkspartei). Die DNVP hatte mit Hugenberg einen Medienmogul, der große Teile der Presse beherrschte und ähnlich wie heute Andrew Breitbart (Breitbart News) bzw. dessen Nachfolger Stephen Bannon, kurzzeitig Berater von Donald Trump, rechtspopulistische Ideologien mit ungeheurer Energie und hohen Auflagen publizierte. Die Ansichten und Programme dieser beiden Parteien treffen, auf heutige Verhältnisse übertragen, viel eher den Geist einer AfD.

Es gibt natürlich graduelle Unterschiede. Die DNVP lehnte die Weimarer Verfassung rigoros ab – ebenso die DVP, die sich aber unter dem Einfluss Gustav Stresemanns häufig an den Regierungen beteiligte und mäßig konstruktiv einbrachte, unter Otto Hugo und Eduard Dingeldey dann aber den endgültigen Bruch mit der Weimarer Verfassung vollzog. Von diesem Bruch ist eine AfD noch mehr oder weniger weit entfernt – zumindest auf dem Papier. Die „Zerrissenheit“ zwischen radikalem Flügel und rechtskonservativen Pragmatikern findet sich heute aber spiegelbildlich auch schon bei der AfD – man denke nur an Bernd Lucke oder die neuesten Parteiaustritte von Frau Petry und ihrem Gatten.

Und genau dies macht meinen Vergleich eben nicht harmloser oder relativierender, sondern erfüllt mich mit großer Sorge. Der Schulterschluss von DNVP, anderen rechtsnationalen Gruppen und der NSDAP vollzog sich medienwirksam in Harzburg. Die DVP löste sich im Juni 1933 auf und viele Mitglieder wechselten in die NSDAP. Welche Kehrtwendungen, strategischen Partnerschaften, Tolerierungen und politischen Volten sind von der AfD noch zu erwarten? Diese Partei mäandert derzeit zwischen nationalem Konservatismus und rechten Ideologien, zwischen dem Bedürfnis nach beschaulich-heiler Volksgemeinschaft und aggressiver Revolte. Das ist ein völlig neues Spannungsfeld, welches die Bundesrepublik bisher in dieser Form nicht kannte. Und es ist eine Herausforderung für alle Politiker – von der Kommune bis zum Bundespräsidenten.

Ich unterstelle der AfD keine nationalsozialistische Gesinnung, kein rechtsextremes Gedankengut, keine Verfassungsfeindlichkeit. Aber ich unterstelle ihr, dass sie den Nährboden dafür bereitet und dass sie, bewusst oder unbewusst, eine solche Entwicklung begünstigt, dass sie zu einer Radikalisierung am rechten Rand und einer Spaltung der Gesellschaft beiträgt und eine Unterminierung unserer freiheitlichen und demokratischen Grundordnung billigend in Kauf nimmt. Zum Schaden ihrer selbst und aller anderen.

Nachwort:

Wir leben – zum Glück – in einer Demokratie. Jeder darf seine Meinung äußern. Natürlich auch Anhänger der AfD (und der MLPD, der NPD, der DKP etc.). Widerspruch bedeutet nicht Redeverbot. Er bedeutet eben nur, dass die anderen nicht derselben Meinung sind.

Und zum Schluss noch etwas angewandte Mathematik: In Deutschland leben derzeit etwa 82 Millionen Menschen. Ungefähr 46 Millionen gingen zur Bundestagswahl und 5,8 Millionen davon haben AfD gewählt. Das sind etwa 12% und knapp 5% der Bevölkerung insgesamt. Und es bedeutet: 88% der Wähler haben kein Kreuz bei der AfD gemacht. Wie kann man dann behaupten, man wäre „das Volk“? Ich bin gespannt auf die mathematisch-statistisch fundierten Begründungen.

 

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