Auf der Suche nach der „politischen Mitte“

Von Lo Siegmund

Lo Siegmund

Will einer heute als größter Langweiler aller Zeiten dastehen, muss er nur ein Bekenntnis zur politischen Mitte abgeben. Plädiert er dann auch noch für die große Koalition, ist er ein Fall fürs Kuriositätenkabinett. Überall, beileibe nicht nur in Deutschland, grassiert die Sehnsucht nach Aufbruch, Neugründungen, jungen Hoffnungsträgern, Verschrottung des Establishments und nach Radikalisierung zu Wasser, zu Lande und in der Luft.

Dabei ist das Bekenntnis zur Mitte für kaum ein Land so beruhigend wie für Deutschland, nach innen und nach außen. Das liegt an der doppelten totalitären Erfahrung der deutschen Geschichte und an der politischen und wirtschaftlichen Stärke. Je mehr das Land die Mitte verließe, desto mehr Ängste würde es bei seinen Nachbarn wecken. Tatsächlich hatte die Bundesrepublik immer solide Regierungen der Mitte, mit denen sich die große Mehrheit der Deutschen zu identifizieren vermochte – eine Mehrheit, die sich weder mit rechten Miesepetern und Krakeelern noch mit linken Ideologen je anfreunden konnte.“

Dieses wunderbare Zitat stammt von Giovanni di Lorenzo, veröffentlicht in einem Artikel der „Zeit“ aus dem Jahre 2018! https://www.zeit.de/2018/09/volksparteien-politische-mitte-spd-cdu-fdp

Die Mitte im heutigen Parteienspektrum

Aber was ist „die Mitte“ heutzutage? Ist dieser Terminus überhaupt noch zeitgerecht? Schauen wir mal ein bisschen hinter die Kulissen politischer Phrasen und allgemeiner seelischer Befindlichkeit.

WIKIPEDIA erhellt uns (nicht) wie folgt: Als politische Mitte bezeichnet man einen Standpunkt im politischen Spektrum, der zwischen „links“ und „rechts“ liegen soll. Wo genau sich diese „Mitte“ befindet und durch welche Positionen sie charakterisiert wird, ist jedoch umstritten; entsprechend diffus ist auch die Verwendung des Ausdrucks. Im politischen Gesamtspektrum verstehen sich die demokratischen Parteien als Teil der Mitte zwischen extrem linken und extrem rechten Ideologien. Innerhalb des demokratischen Spektrums wiederum ist es naheliegend, einen zwischen den großen Hauptströmungen (in Deutschland Konservatismus und Sozialdemokratie, vertreten durch die Volksparteien CDU/CSU bzw. SPD) angesiedelten Standpunkt als politische Mitte zu betrachten.

Das bringt uns nicht weiter. Die „Volksparteien“ CDU und SPD sind im eigentlichen Sinn keine mehr, eine dritte Kraft gewinnt zunehmend an Einfluss. Die GRÜNEN, in den 80er Jahren als Protestpartei gegründet, sind inzwischen mit ihren Wählern und Sympathisanten im politischen Spektrum der Mitte angelangt. Die ehemals strickenden, stillenden und krawattenlos in Turnschuhen auftretenden Abgeordneten und Ministeranwärter sind längst etabliert, ihre Wähler verbeamtet, im Staatsdienst als Ministerpräsident eines ehemals kreuzkonservativen „Ländles“ oder eben umweltbesorgte, mittelständische, aufstrebende Unternehmensberater, Banker oder Werbetreibende sowie junge Väter und Mütter aus dem (zumeist) städtischen und suburbanen Milieu. Das hätte in den 80er Jahren niemand zu sagen gewagt, dass „nur“ 30 Jahre später diese Partei einmal einen erheblichen Anteil des bundesdeutschen Bürgertums repräsentieren würde.

Eine andere, klassische Partei der „Mitte“, die liberale Partei, hat sich durch ihre auf reine Wirtschaftsliberalität fokussierte und den – noch in den 70er und frühen 80er Jahren maßgeblich mitprägenden – sozialliberalen Flügel vernachlässigende politische Ausrichtung  in den letzten Jahren quasi selbst pulverisiert. Je nach Kandidat und Wahltaktik erreicht man bestenfalls knapp zweistellige Ergebnisse – in der Regel freut man sich bei der F.D.P. jedoch schon, wenn man die 5%-Hürde bei Wahlen ausnahmsweise mal einigermaßen souverän meistert.

Die Mitte ist, wo ich bin

Und ein weiterer Aspekt verdient Beachtung: CDU und SPD haben in ihren Glanzzeiten immer auch einen (mehr oder weniger gemäßigten) Rand im rechten und linken Spektrum abgedeckt, man denke nur an Politiker wie Martin Hohmann oder Alfred Dregger aus Fulda, Hanns-Martin Schleyer (Untersturmführer der Waffen-SS bevor er Arbeitgeberpräsident wurde), Erika Steinbach und – nicht zuletzt – Alexander Gauland auf Seiten der CDU und andererseits Herbert Wehner, Oskar Lafontaine oder aktuell Matthias Miersch als Vertreter der PL (Parlamentarische Linke in der SPD – die parteiinterne „Gegenveranstaltung“ zum eher pragmatisch-konservativen „Seeheimer Kreis“) oder Kevin Kühnert.

Die Anhänger eines Martin Hohmann oder von Oskar Lafontaine hätten sich zu Zeiten, als diese noch ein CDU- bzw. SPD-Parteibuch besaßen, sicherlich als zur politischen Mitte zugehörig eingestuft. Und ob sie nach deren Abgängen in Richtung AfD bzw. Die Linke sich plötzlich selbst als nicht mehr zur Mitte sondern dem politischen Rand zugehörig sehen, darf bezweifelt werden. Es kommt ja überhaupt wie so oft auf den eigenen Standpunkt und den Blickwinkel an, um Ränder und Zentren zu definieren. Die Frage ist: waren diese Anhänger und Wähler vorher Teil der Mitte und sind es jetzt nicht mehr? Oder waren sie es nie? Definiert sich „Mitte“ über ein Parteibuch oder eher über die individuelle politische Ausrichtung, unabhängig von Mitgliedschaften in Parteien? Und vor allem: wer definiert die Mitte?

Das Grundgesetz hilft auch nicht weiter, denn dort werden „radikal“ und „extrem“ nicht legal definiert. Folglich wäre alles „Mitte“, was sich im Rahmen des Grundgesetzes bewegt. Aber „radikal“ im Sinne von „von Grund auf“ oder „vollständig“ und „extrem“ im Sinne von „sich auf Grenzen zubewegend“ oder „Grenzen überschreitend“ beschreiben sicher nicht das, was wir unter „der Mitte“ verstehen. Während die Radikalen sich noch hart an der Grenze des Grundgesetzes bewegen, stehen die Extremisten außerhalb dieser Ordnung. Von einer Mitte sind sie jedoch beide meilenweit entfernt.

Nochmals zu den Grünen: in den 80er und 90er Jahren hätte man diese Partei sicher nicht zu einer bürgerlichen Mitte gerechnet. Heute ist sie zumindest hinsichtlich des Wählerspektrums dort angekommen. Die Grundschullehrerin im vorstädtischen Einfamilien-Reihenhaus als „klassische“ Grünen-Klientel wird man vermutlich nicht am radikalen Rand verorten – geschweige denn sie sich selbst. Auch sind die Grünen heute von außerparlamentarischer Opposition im Stile von Brokdorf und Startbahn 18 West so weit entfernt, wie die SPD von „Che“ rufenden Studenten und die F.D.P. von innovativen umweltpolitischen Konzepten, die sie einst im Freiburger Programm selbst formuliert hatte.

Die Mitte ist nicht statisch – sie bewegt sich

Politik ist immer auch Bewegung; ursprüngliche und manchmal sogar sinnstiftende Positionen und Inhalte werden aufgegeben oder angepasst zu Gunsten einer Regierungsfähigkeit, einer Koalition oder einfach, weil sich die Ausgangslage radikal verändert hat. Wer hätte vor 20 Jahren vermutet, dass Grüne und CDU jahrelang gemeinsam Hessen regieren – einträchtiger als es sich Holger Börner jemals erträumt hätte? Und wer hätte 1980 gedacht, dass die F.D.P. sich nur zwei Jahre später aus der Sozialliberalen Koalition verabschieden würde? Immerhin war sie damals mit einem klaren Bekenntnis zur Weiterführung dieser Koalition ins Rennen gegangen, was ihr einen entsprechenden Anteil an Zweitstimmen sicherte (auf die Frage, ob er die Sozialliberale Koalition auf weitere vier Jahre fortzusetzen gedenke, sagte FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher, der der SPD zwei Jahre später die Koalition aufkündigte, in der Wahlnacht in der Bonner Runde: „Ja, man macht’s ja nicht für drei Monate.“). Dass das „Musterländle“ Baden-Württemberg dereinst von einem Grünen regiert würde, trotzdem weiterhin wirtschaftlich prosperiert und die Menschen in Stuttgart und Ulm, in Baden-Baden und Friedrichshafen nach fast zehn Jahren Regierungszeit von Kretschmann immer noch nicht Subsistenzwirtschaft auf kargen Feldern betreiben und abends am Torffeuer Geschichten von früheren, besseren Zeiten erzählen – auch das war vor 20 Jahren kaum vorstellbar, vor 50 Jahren schier undenkbar.

Die sogenannte „Mitte“ scheint also äußeren Einflüssen unterworfen – zumindest bedingt. Und sie ist nicht klar umrissen – wo sind ihre Grenzen, wo beginnt der „Rand“? Wenn Ansichten sich langsam durchsetzen und vom politischen Rand ins kollektive Bewusstsein einsickern, werden sie mehrheitsfähig und somit Teil der „Mitte“. Das hat die Ökologiebewegung der 80er Jahre eindrucksvoll  bewiesen. Derzeit erleben wir ein ähnliches Phänomen, nämlich den teilweise bereits erfolgreichen Versuch von Neokonservativen und Neuer Rechte, den politischen Konsens der Bundesrepublik seit den späten 60er Jahren zu hinterfragen und den sprachlichen Diskurs in ihrem Sinne zu vereinnahmen, umzudeuten und mit ihrer Terminologie neu zu besetzen. Teile dieser Bewegung bewegen sich dabei bewusst im Grenzbereich des bisher allgemein anerkannten Moralempfindens. Das Grundgesetz versucht, diese Grenzen zu definieren, aber ohne dabei den Begriff der Mitte genau zu beschreiben. Die Artikel 1 – 20 sind in ihrem Wesensgehalt unabänderlich. Sie spiegeln der Wertekanon der westlichen Gesellschaft – und damit den Minimalkonsens darüber, welche Werte unantastbar sein soll(t)en. Insofern könnte man also umgekehrt schlussfolgern, dass diejenigen,  die diese definierten Werte ganz oder in Teilen ablehnen, nicht Teil der Mitte sind. Aber auch das bringt uns nicht weiter bei der Suche nach einer konkreten Definition dieser Mitte, wir schließen nur diejenigen aus, die offensichtlich nicht mittig veranlagt sind. Die Mitte ist und bleibt eine schwammige Formulierung, eine ungefähre Idee, ein amorphes Etwas.

Die politische Mitte ist immer Spiegelbild der Mitte der Gesellschaft. Und sie variiert von Land zu Land, von Epoche zu Epoche, von Kulturkreis zu Kulturkreis. Eine politische Mitte im Deutschen Kaiserreich war eine andere als es die politische Mitte der Bundesrepublik im Jahre 2020 ist. Die politische Mitte von Nordkorea, Kanada und Togo hat nicht viel gemein. Jedenfalls nicht, wenn man eine politische Mitte über die bloße Schnittmenge der größten, gemäßigten Strömungen innerhalb eines Regierungssystems oder einer Staatsform definiert. In Autokratien und Diktaturen dürfte es per Definition eigentlich gar keine Mitte geben – denn da sind politische Ausprägungen, die von der Doktrin abweichen, nicht erlaubt. Wenn aber alle einer Meinung sind (scheinbar), dann ist „Mitte“ eine überflüssige und deshalb unsinnige Standortbestimmung: alle anderen sind ja auch dort, wo sich die Mitte verortet. Das erinnert mich an die wundervolle Szene aus „Das Leben des Brian“, in der Brian vom Balkon zu seinen Anhängern spricht und sie fragt „Ihr seid doch alle Individuen“ und alle unisono antworten „Ja!“. Nur einer bemerkt darauf „Ich nicht!“. Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.

Gibt es eine bessere, angemessenere Bezeichnung als „politische Mitte“?

Natürlich könnte man den Begriff ersetzen, zum Beispiel durch „rationale Mitte“ oder „ethische Mitte“. Aber auch damit ist uns kaum geholfen. Auch hier würden Menschen, die landläufig betrachtet vermutlich nicht in der politischen Mitte anzusiedeln sind, womöglich (und in manchen Fällen vielleicht richtigerweise) bemerken, sie seien ja nun keineswegs „irrational“ oder unethisch. Und umgekehrt ist niemand, der korrekterweise im Bereich der politischen Mitte angesiedelt ist, in all seinem Handeln und Denken stets rational oder ethisch. Er ist vielleicht eher bemüht, nach diesen Prinzipien zu handeln, aber er wird sie kaum dauerhaft und in jeder Lebenssituation einhalten können. Also bringt uns das auch nicht weiter. Es ist schon ein Kreuz mit dieser Mitte! Jenseits der rein geometrischen Betrachtung scheint jede konkrete Definition zum Scheitern verurteilt. Vielleicht hilft eine ganz pragmatische Herangehensweise: wir nehmen die Menschen so, wie sie sind. Wenn der Großteil ihrer Eigenschaften und Ansichten mit dem allgemeinen Konsens übereinstimmt, dann gehören sie zur politischen Mehrheit, dann sind sie Teil eines staatstragenden Fundaments. Damit ist nicht gesagt, ob dies gut oder schlecht, moralisch verwerflich oder absolut zu befürworten ist. Und so lange es den übrigen, die auf der anderen Seite des Bauzauns stehen, nicht gelingt, das Fundament zu zerstören oder ein anderes zu errichten, sind diese eben kein Teil der staatstragenden Substanz. Damit würde der Begriff der Mitte wertneutral etwas gedehnt, gleichzeitig aber auch von einem moralischen Ballast befreit. Denn die Mitte ist ja irgendwie immer gut – zumindest nicht schlecht. Sie ist ausgewogen, austariert, da kippt nichts, wir suchen beim Yoga unsere innere Mitte, damit wir gestärkt und ausgeglichen unsere täglichen Herausforderungen meistern können. Ein Fundament hingegen ist per se zwar etwas positives, es gibt Stabilität und nur auf einem soliden Fundament kann auch ein solider Bau entstehen. Allerdings kann der Bau scheußlich sein, architektonisch missraten, zu unmoralischen Zwecken errichtet, instabil oder monumental, grazil und erhaben oder unvollendet als Bauruine. Er kann ein Hort des Wissens sein, eine Bibliothek, ein Begegnungszentrum, ein Hospiz, ein Gefängnis oder ein Parlament. Er kann der Lehre dienen oder der Heilung, er kann aber auch eine Fabrik für Massenvernichtungswaffen sein. Wir entscheiden, wofür wir das Fundament sein wollen. Ob Mitte oder nicht.