Der Volkstrauertag ist ein Blick zurück, ein Blick in die Vergangenheit – ein Blick auf die Gräber der Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft.
Jedoch soll er auch in der Gegenwart zum Frieden mahnen.
Wir alle haben uns aus diesem Grund hier am Ehrenmal eingefunden. Ich freue mich sehr, dass ihr alle gekommen und heute dabei seid.
Vor etwas über 100 Jahren, 1922, erinnert der Reichtstag erstmals an die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkrieges. Zu diesem Anlass sagt Reichstagspräsident Paul Löbe, die Trauer um die Toten sei die Abkehr von Hass und das Hinwenden zur Liebe: „Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch die Toten zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet die Abkehr vom Hass, bedeutet die Hinkehr zur Liebe, und unsere Welt hat Liebe not.“
Eine Botschaft, die nicht mehr durchdringt, als die Nationalsozialisten im März 1933 die Macht ergreifen.
Nach dem Ende des „tausendjährigen Reiches“, welches gerade einmal 12 Jahre Bestand hatte bevor es unterging und dessen Ideologie Millionen tote Soldaten und Zivilisten, zerstörte Städte und den folgenden Generationen die Shoa als Erbschuld hinterließ, nach der Kapitulation Deutschlands 1945 setzte sich langsam – aber stetig – die zunächst zart vermutete und dann immer mehr zur Gewissheit werdende Erkenntnis durch: So etwas darf sich nie wiederholen!
Wir als Deutsche haben uns mit der bedrückenden Tatsache auseinandersetzen müssen, dass Menschen unter den Bedingungen des Krieges und der Gewaltherrschaft nicht nur zu Untaten genötigt und gezwungen wurden, sondern diese bisweilen gedankenlos und manchmal mit besonderer Gewissenhaftigkeit und eigenem Eifer bis zur letzten Konsequenz ausübten.
Dieser Eifer, diese Verbissenheit, dieser Hass sind aber beileibe keine spezifisch deutsche Besonderheit. Wir finden sie überall auf der Welt, aktuell wieder in ganz besonderer Ausprägung im Nahen Osten und beim Krieg in der Ukraine. In den 90er Jahren zeigten sie auf dem Balkan ihre hässliche und entmenschlichende Fratze, als das ehemalige Jugoslawien zerfiel.
Bevor sich Menschen gegenseitig umbringen und das Hab und Gut der anderen niederbrennen ist aber immer eine andere Waffe wirksam: Die Macht der Sprache!
Sprache ist ein wirkmächtiges Instrument und sie beeinflusst uns im Denken und Handeln. Demagogen nutzen sie, um Aggression zu beschönigen, um Unsagbares zu rechtfertigen, um Hass und Neid und Missgunst zu säen, um Menschen zu entmenschlichen. Wie dieses Prinzip funktioniert, können wir zusehends auch in den westlichen Demokratien beobachten. Der Wahlkampf in den USA, die vergangenen Parlamentswahlen in Frankreich, den Niederlanden, Italien und auch die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg vermitteln einen Eindruck, welchen Einfluss Sprache und Vokabular auf die Verschiebung des „Unsagbaren“ hin zum „Sagbaren“ haben kann. Mit allen Konsequenzen für das Selbstempfinden der Menschen und die Handlungsbereitschaft, nach dem „Gesagten“ auch Taten folgen zu lassen.
Lasst uns bitte wieder mehr auf die Sprache unserer Mitmenschen und die politische Sprache achten. Lasst uns sensibel sein für „Unsagbares“, für Entgleisungen, für Hetze und für den Versuch, Wortschöpfungen und Begriffe in unsere Alltagssprache einfließen zu lassen, die vermeintlich harmlos daherkommen und dennoch nur das eine Ziel haben: Menschen zu „entmenschlichen“. Wir sollten uns dem mit aller Kraft entgegenstellen.
Denn das ist der Sinn des Volkstrauertages: Menschen Würde zu erweisen!
Für ein friedvolles und soziales Miteinander sind Achtung und Toleranz gegenüber unseren Mitmenschen unabhängig von ethnischer Herkunft oder persönlichen Weltanschauungen entscheidend. Im Kleinen wie im Großen.
Wir dürfen eben nicht vergessen, dass Frieden und ein friedliches Miteinander nicht selbstverständlich sind.